Solidarität

Augen–Blicke: Ist Empathie die Voraussetzung zur Solidarität?

Text und Bild: Marie Sprute

Solidarität. Das Wort hat sich in meinem Kopf eingenistet und egal was ich lese, ständig legt mein Gehirn irgendwelche Solidaritätsschablonen drüber. Eine dieser Querverbindungen hat dafür gesorgt, dass mir nun klarer geworden ist, warum die Welt nicht viel solidarischer ist.

Vor kurzem las ich in der Taz ein Interview, in dem der sudanesische Exilaktivist Adam Baher über die (nicht vorhandene) Aufmerksamkeit für den sudanesischen Regierungswechsel resümiert:

Es macht mich traurig, in Deutschland zu sein, und es gibt keine Solidarität. Ich gehe ja auch zu deren Demos für Mieten, Klimaschutz und so weiter. Aber für den Sudan interessiert sich niemand.

Und es stimmt, ich kenne nur wenige Menschen, die sich ausführlich mit dem Regierungssturz im Sudan beschäftigen, geschweige denn öffentlich ihre Unterstützung und Solidarität ausdrücken. Aber woran liegt das?

Ich glaube eine wesentliche Voraussetzung für Solidarität ist Empathie.

Nur wenn ich verstehe, wie es einem Menschen in einer bestimmten Situation geht und mich in die Person hineinversetzen kann, wird mich die Lage der anderen Person zum solidarischen Handeln anregen. Und Zack! Hier kommt die Querverbindung: Zu Hartmut Rosas Buch Resonanz. Darin beschreibt er Empathie als die Fähigkeit, sich in eine andere Person einzufühlen, ihre Handlungen nachzuvollziehen und ihre Perspektiven einzunehmen. Laut Rosa basiert dies im Wesentlichen auf der Möglichkeit das „bei anderen beobachtete Verhalten wie das eigene Handeln erleben zu lassen“. Da soziale Wesen unterbewusst dauerhaft die Perspektive anderer Menschen übernehmen, und auch gar nicht anders können, leben sie also „in einer Welt voll empathischen Lärms“.

Das lässt mich die Vermutung anstellen, dass mangelnde Empathie (und – wenn meine These stimmt – auch mangelnde Solidarität) durchaus ein Mittel des Selbstschutzes sein kann. Wenn Empathie bedeutet, dass ich das Verhalten anderer so erlebe, als sei es mein eigenes, dann ist es ziemlich krass, beispielsweise einem geflüchteten Menschen oder Opfer einer Vergewaltigung Empathie entgegenzubringen. Das sind Sachen, die halte auch ich mir lieber vom Leib: Das Erleben würde mich emotional völlig aus der Bahn werfen. Aber auch in anderen Fällen kann Bereitschaft zur Empathie das eigene Leben stark beeinflussen: Während des sudanesischen Umsturzes bin ich teils ziemlich irritiert durch mein Leben gestolpert. Durch den stetigen Kontakt mit meinen sudanesischen Freund*innen erschien mir mein Leben einfach absurd normal.

Aus dieser Perspektive betrachtet, kann es durchaus sinnvoll sein, der Empathie in bestimmten Situationen Grenzen zu setzen

– was nicht bedeuten muss, dass ich mich nicht mit den Themen auseinandersetzen sollte. Wie genau ein Abschalten der Empathie funktioniert kann auch ich nur spekulieren – und lasse es an dieser Stelle deshalb besser sein. Lieber möchte ich mich der Frage zuwenden, inwiefern die uns umgebende Welt unsere Empathie beeinflusst. Hilft sie uns immer empathischer zu werden oder sorgt sie doch eher dafür, dass wir unsere ‘Empathieschranken’ runterfahren?

Dass mittlerweile, aufgrund der globalen Vernetzung, täglich entsetzliche Bilder auf uns einprasseln – man denke nur an die Tagesschau oder so manch ein Video, das einem im Newsfeed entgegenpurzelt – macht den erwähnten Selbstschutz vielleicht sogar noch notwendiger. Ich erinnere mich noch gut daran, wie schockiert meine Mutter von 9/11 war, während ich mit meinen acht Jahren gar nicht erfassen konnte, was da eigentlich passiert. Und so habe ich die Aufregung meiner Mutter als emotional aufwühlender wahrgenommen, als die Bilder im Fernseher. Auch wie meine Großeltern jedes Kriegsgeschehen in der Tagesschau tief getroffen hat, ist mir gut in Erinnerung geblieben. Als Kind konnte ich nicht verstehen, dass das eben nicht nur fiktive Aufnahmen sind, sondern einzelne, reale Menschen, die das tatsächlich erleben. Und jetzt, als Erwachsene, ist das nicht sehr viel anders.

Dieser Selbstschutzmechanismus erklärt aber noch nicht, dass eine Analyse zu Persönlichkeitseigenschaften amerikanischer Studierender zu dem Schluss kam, dass die Empathiebereitschaft und Empathiefähigkeit sich innerhalb der 30 Jahre von 1979 bis 2009 um 40 Prozent verringert hat. Der Vergleich zwischen meinen Großeltern, meiner Mutter und mir legt denselben Schluss nahe: Irgendwie scheint die Gesellschaft weniger empathisch zu werden. Wenn Empathie während der Interaktion von Menschen natürlicherweise geschieht, wie lässt sich dann diese Verringerung, vielleicht sogar Blockade der Empathiefähigkeit erklären?

Auch hier nutze ich das Tagesschau-Phänomen zur Anschauung. Wieder in Anlehnung an Hartmut Rosas Resonanz möchte ich meine Überlegung formulieren, dass Empathie eine ‚echte‘ Begegnung und den direkten Kontakt braucht.

Der Augenkontakt ist das Wesentliche. Er erweckt zwischen Menschen ein Gefühl der Verbundenheit.

Bildschirme stellen nach dieser Logik also Empathieblocker dar. Aber Bildschirme sind mittlerweile zum wichtigsten Medium geworden, durch das wir in Beziehung zur Welt, zu anderen Menschen treten. Rosa nennt diesen Gesellschaftsmodus die „smartphonefixierte Kultur des gesenkten Blicks“. Diese Kultur hat zur Folge, dass ich die Welt um mich herum nicht mehr wahrnehmen kann, weil mein Fokus auf meinem Smartphone liegt. So hasten Menschen mit gesenktem Blick auf ihr Handy an Obdachlosen vorbei, ohne diese auch nur wahrzunehmen. Andererseits sind aber auch diejenigen Beziehungen von einer anderen Qualität, die ich über das Smartphone erlebe: Da der Kontakt nur über ein Medium hergestellt wird, also nicht unmittelbar, ist die Beziehung von einer verminderten Empathiefähigkeit geprägt. Das erklärt zumindest zum Teil, warum mich die über den Bildschirm vermittelten Bilder der Tagesschau oft kaltlassen: Es fehlt einfach der Blick in die Augen eines anderen Menschen.

Adam Baher nun zuzurufen, es liege an den Bildschirmen, wenn die nicht wären, wären wir alle solidarisch! – geht aber natürlich nicht und greift zu kurz. Denn die Bildschirme ermöglichen uns auch, dass wir überhaupt diejenigen Menschen sehen, die im Sudan gegen das Regime auf die Straße gehen. Und sie sind es, die es den Menschen im Sudan ermöglichen zu protestieren – denn die Proteste werden hauptsächlich über die sozialen Medien organisiert. Außerdem geht die Tendenz zum Bildschirm natürlich einher mit einer Unmenge anderer Faktoren, die zu einem nicht empathischen Verhalten beitragen: Die bereits erwähnte Studie macht so hauptsächlich den höheren Zwang zu wettbewerbsorientierten Verhalten und Beschleunigungszwänge verantwortlich. Wenn ich mir vergegenwärtige, dass ich in einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft besser, schneller und flexibler als meine Mitmenschen sein muss, um Erfolg zu haben, macht das Sinn: ‘über Leichen gehen’ kann nur, wem die Leichen egal sind. Es lässt sich aber doch insgesamt festhalten: All diese Praktiken münden in eine Kultur, die Empathiefähigkeit eher einschränkt als befördert.

Freilich: Dass Empathie eine Grundvoraussetzung für Solidarität ist, ist natürlich nicht erwiesen, sondern nur meine ganz persönliche Vermutung. Ganz absurd finde ich die Verbindung aber gar nicht, vor allem wenn ich mir verdeutliche, dass die meisten Menschen häufig am solidarischsten mit den Menschen sind, zu denen sie einen Bezug haben. Meine Großeltern haben beispielsweise selbst Krieg erlebt, und ich musste erstmal im Sudan leben, um mich für die Geschehnisse dort ernsthaft zu interessieren. Dass es verschiedene Formen von Solidarität gibt, wie beispielsweise ‚weibliche Solidarität‘, liegt nicht zuletzt daran, dass es leichter fällt, mich in die Gefühle und Lage von Menschen reinzuversetzen, deren Gefühle und Lage ich teile und deshalb besser nachvollziehen kann. Meine Empathiefähigkeit ist hier also um einiges höher, und das führt dann zu solidarischem Verhalten.

Wenn Empathie aber eine Grundvoraussetzung für solidarisches Handeln ist, dann lässt sich der Ruf nach mehr Solidarität auch als Ruf nach mehr Empathie verstehen. In diesem Sinne:

Habt Mut zu Augenblicken mit Augen–blicken!

Von marie

Marie fühlt sich bei Regen und Wind oft am lebendigsten. Die Bandbreite der großen und kleinen Themen des Lebens, die sie beschäftigten, ist genauso weit wie der nordische Horizont: Von Feminismus über globale Ungleichheiten, der Rolle von ländlichen Räumen und Landwirtschaft bis hin zu alternativen Lebensformen und Yoga ist alles – und noch viel mehr – dabei. Gemeinsamer Nenner? Wohl der Wandel.

2 Antworten auf „Augen–Blicke: Ist Empathie die Voraussetzung zur Solidarität?“

Marie, das hast Du wirklich wundervoll geschrieben und sprichst vielen von uns aus der Seele. Wir haben wieder einiges an Werten nachzubessern, was uns scheinbar mit der Zeit verloren gegangen ist. Vielleicht aber haben wir auch nur einiges wieder zu reaktivieren, in unserem sonst so geschäftigen Leben. In einer Welt wie der heutigen sollte es eigentlich heißen vom Handy aufzublicken und zueinander zu halten. Für die Welt da draußen offen und da zu sein, denn wir sind ein Teil dieser Welt! Wir Menschen haben noch viel zu lernen, jeden Tag mehr…

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