leise

Menschenrechte im Ausverkauf

Text: Lisa Boll – Bilder: Yevgenia Belorusets 

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“
[Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 1]

Nur wenige Wochen Stillstand des öffentlichen Lebens reichten aus, um eine der größten Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit auszulösen. Wie gravierend die Folgen der Corona Pandemie für die deutsche Wirtschaft werden, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch niemand sagen. Und trotzdem: Kurz nach Ausbruch des SARS-CoV-2 Virus begann die Regierung Maßnahmen einzuleiten, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen in Deutschland abzumildern. Neben Kurzarbeiter*innengeld oder Kündigungsschutz für Mieter*innen können auch Unternehmen mit staatlichen Finanzspritzen rechnen. Die Kombination deutsche Staatsangehörigkeit und Arbeitsstätte in Deutschland führt zu Arbeitsschutz und sozialer Absicherung. Fallen diese Variablen weg, sieht es schon ganz anders aus.

Was passiert mit den Produktionen, den Lieferant*innen und Arbeitnehmer*innen außerhalb Deutschlands, wenn aufgrund der aktuellen Krise alles stillsteht? Wochenlang waren die Filialen von H&M, Esprit & Co. geschlossen, die Verkäufe gingen drastisch zurück. Die Arbeitnehmer*innen der Modeketten in Deutschland und die Firmen selbst können mit Unterstützungen von staatlicher Seite rechnen. Was aber sind die Konsequenzen in anderen Ländern der Lieferkette? Abgesagte Kollektionen, geschlossene Fabriken, kein Geld für die Arbeiter*innen. Selbst teils fertige Kollektionen stornierten die großen Modefirmen kurzerhand. Weil sie es können. Auch schon vor Corona hatten die Fabriken kaum eine Chance sich gegen den heftigen Preisdruck zu wehren. Verlangt eine Fabrik mehr Geld, um einen gerechten Lohn zahlen zu können, wechselt der*die Auftraggeber*in in eine Fabrik, die die Aufträge für weniger Geld ausführt. Oder gleich in ein anderes Land, wo die Sozialstandards noch niedriger sind und somit die Arbeitskraft billiger. Das Problem ist nicht neu. Aber durch Corona werden Situationen, die vorher schon prekär waren, noch prekärer.

Ausbeutung made in Europe

Ende April erschien der Bericht Ausbeutung made in Europe, herausgegeben von der Clean Clothes Campaign (dt. Kampagne für saubere Kleidung) in Zusammenarbeit mit Brot für die Welt. Die Clean Clothes Campaign ist ein internationales Netzwerk, das 1989 in den Niederlanden gegründet wurde und in dem weltweit über 200 Organisationen wie Gewerkschaften, Verbraucher*innen- verbände und Frauenrechtsorganisationen zusammenarbeiten. Sie setzen sich seit Jahrzehnten für die Rechte der Arbeiter*innen in der Textilindustrie ein. Mit öffentlichen Kampagnen und Aktionen üben sie Druck auf Regierungen und Modeketten aus, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Zudem untersuchen sie in regelmäßigen Abständen europäische, asiatische und mittelamerikanische Textilfabriken, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und die Versprechen der Modeunternehmen nach verbesserten Arbeitsbedingungen zu überprüfen.

Für den Bericht 2020 wurden Näher*innen befragt, die in der Ukraine, Serbien, Kroatien und Bulgarien – also in Europa – für deutsche Modemarken wie Hugo Boss, Adidas, Esprit und Handelsmarken wie dm, Kaufland und Aldi arbeiten. Die Ergebnisse zeigen, dass sich kaum etwas verändert hat und keine Verbesserungen für die Arbeiter*innen in Sicht sind. Dass die Arbeitsbedingungen in osteuropäischen Ländern, die teilweise der EU angehören, so katastrophal sind, ist für viele überraschend: Regelmäßige Ohnmachten an nicht belüfteten Arbeitsplätzen, Lohnzahlungen, die eine menschenwürdige Existenz unmöglich machen und Zwangsarbeit – so sieht die Realität der Befragten aus.

 „Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen.”
[Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 23, Absatz 3]

Zu einer menschenwürdigen Existenz gehört ein Lohn, der es erlaubt, Geld für Ernährung, Gesundheit, Kleidung, Urlaub und Rücklagen auszugeben. Die Näher*innen aber leben unterhalb der Armutsgrenze.

 „Jeder hat das Recht, zum Schutze seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.”
[Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 23, Absatz 4]

Wer eine Gewerkschaft gründen will, muss damit rechnen, den Job zu verlieren oder massiv unter Druck gesetzt zu werden. 

Es geht hier also nicht nur um Arbeitsschutz, der missachtet wird, sondern um universelle Menschenrechte, worauf jede und jeder Anspruch hat. Sie sind von den Vereinten Nationen festgeschrieben und existieren seit 1948. Doch diese Menschenrechte werden in der gesamten textilen Lieferkette systematisch unterwandert und schlichtweg mit Füßen getreten. Das Problem liegt bei der Rechtsverbindlichkeit und Sanktionierbarkeit. Alle großen Modefirmen haben inzwischen eigene Leitlinien und Verhaltenskodizes, um Ausbeutung in ihrer Lieferkette zu verhindern. Doch es fehlt massiv an Kontrollen und an Sanktionsmöglichkeiten. Die Modemarken geben die Verantwortung an ihre Zulieferfirmen weiter, die dann wiederum für die Sozialstandards in den Fabriken Sorge tragen sollen. Wie die Zulieferfirmen die teuren Sozialaudits – also Nachweise für gute Arbeits- und Sozialstandards in den Fabriken – bezahlen sollen, bleibt fraglich. Dazu beitragen wollen die großen Retailer nämlich nicht. Nur auf dem Papier, da soll es gut aussehen.

Das Problem betrifft natürlich nicht nur die Modeindustrie. Die gesamte Wirtschaft im Globalen Norden basiert darauf, dass Firmen ihre Wertschöpfung in Länder verlegen, wo es mit dem Arbeitsschutz und den Menschenrechten nicht so genau genommen wird und die Arbeitskraft somit billig ist. Das hält die Produktionskosten niedrig, die Waren wettbewerbsfähig und somit die Gewinnspanne hoch – auf Kosten der Würde und der Gesundheit der Arbeiter*innen vor Ort.

Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung

Schon oft wurde auf internationaler Ebene der Versuch unternommen, weltweit agierende Konzerne an die Leine zu nehmen: Es gibt die OECD Leitsätze für multinationale Unternehmen (1976), den UN Global Compact (1999) und die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (2011). Aber all diese Instrumente zum Schutz vor Ausbeutung in internationalen Lieferketten sind bisher nicht rechtlich bindend für Unternehmen oder nur sehr schwer durchsetzbar, wenn mehrere Länder im Spiel sind. Nach Aufforderung der EU-Kommission verabschiedete Deutschland 2016 einen Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte (NAP), um die UN-Leitprinzipien von 2011 umzusetzen. 

Das Deutsche Institut für Menschenrechte beschrieb den Plan nach Veröffentlichung als wenig ambitioniert, da die Spannung zwischen Verbindlichkeit und Freiwilligkeit nicht aufgelöst wurde.” Erneut setzte die deutsche Regierung auf die freiwillige Selbstverpflichtung statt auf staatliche Sanktionierungen.

Dass es auch anders geht, zeigt Frankreich. Seit 2017 gibt es dort ein Gesetz zur menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht für große Unternehmen. Kommen sie dieser Sorgfaltspflicht nicht nach, drohen Bußgelder in Millionenhöhe und Betroffene haben Anspruch auf Schadensersatz.

Ein Zwischenbericht der Bundesregierung von Dezember 2019 zeigt, dass sich nur 20% der befragten Unternehmen überhaupt mit dem Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte beschäftigt haben. Freiwilligkeit reicht offensichtlich nicht aus. Zu dem Schluss kamen auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Gerd Müller. Sie machten deshalb einen ersten Vorstoß für eine gesetzliche Verankerung der unternehmerischen Sorgfaltspflicht. Doch einflussreiche Wirtschaftsverbände fürchten so ein Gesetz. Aktivist*innen, wie die Clean Clothes Campaign, die Fashion Changers und Fashion Revolution halten dagegen und erhöhen durch Kampagnen wie #fairbylaw den Druck auf die verantwortlichen Minister.

Initiative Lieferkettengesetz

Hinter der Initiative Lieferkettengesetz haben sich bereits mehr als 90 Organisationen versammelt, die zusammen für ein Gesetz kämpfen, durch das Unternehmen ihrer Sorgfaltspflicht in der gesamten Wertschöpfungskette nachkommen und darüber öffentlich berichten müssen. Außerdem soll das Lieferkettengesetz endlich ermöglichen, die Unternehmen bei Nichteinhaltung zu sanktionieren und für Verstöße gegen Menschenrechte und Umweltschäden haftbar zu machen. So ein Gesetz könnte für wirkliche Verbesserungen in den globalen Lieferketten sorgen. Und das nicht nur in der Textilindustrie.

Die aktuelle Krise zeigt, wie verwundbar globale Lieferketten sind. Menschenrechte setzen sich nicht selbstverständlich durch, sondern sie müssen immer wieder erkämpft werden. Die nächsten Monate werden zeigen, ob Heil und Müller sich diesen Kampf zutrauen – laut werden – und den Gesetzesentwurf für ein Lieferkettengesetz einbringen. Oder ob mit Verweis auf die schwierige Wirtschaftslage durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie den Lobbyverbände aus Industrie und Handel nachgegeben wird und es bei freiwilligen Absichtserklärungen der Unternehmen bleibt. Dann nehmen alle Beteiligten in Kauf, dass die Menschenrechte der Arbeiter*innen innerhalb der globalen Lieferketten weiter systematisch missachtet werden.

Disclaimer: Das Entwicklungspolitische Netzwerk Sachsen e.V. bietet in Zusammenarbeit mit der Clean Clothes Campaign eine Weiterbildungsreihe zum Thema “Mode und Menschenrechte” an, die FairCademy. Lisa hat 2018/2019 daran teilgenommen und dabei viel über die Menschenrechtslage in der Modeindustrie gelernt.

Was das mit leise zu tun hat:

Dem fertigen T-Shirt sieht man nicht an, durch welchen Grad an Ausbeutung es entstanden ist – die Arbeiter*innen und ihre Geschichten dahinter bleiben leise, wenn nicht sogar stumm. Ein Lieferkettengesetz könnte Ihnen mehr Macht zur Durchsetzung ihrer Rechte geben und somit eine Stimme, um laut zu werden.

Weiterführende Informationen:

Die Fotos der Fotografin Yevgenia Belorusets in diesem Artikel wurden uns von der Clean Clothes Campaign zu Verfügung gestellt – vielen Dank!

Wer in der Clean Clothes Campaign aktiv werden möchte, findet hier viele Regionalgruppen oder gründet einfach selbst eine. Die nächste Gruppe (von Flensburg aus) gibt es in Kiel.

Viele Informationen zur Thematik findest du auf dem Instagram-Kanal und im Online-Magazin der Fashion Changers.

Von lisa

Bei Ungerechtigkeiten aller Art, Angeber*innen und falsche Kommas steigt sogar unserer diplomatischsten Trotznase das Blut in den Kopf. Besonders spannend findet Lisa Wirtschaft, die ganz anders laufen müsste als bisher. Auch bei Machtverhältnissen und Politik spitzt sie Ohr und Bleistift. Wenn auch alles nicht so rosig aussieht, Lisa ist immer diejenige, die das Gute in der Situation, dem Mensch und der Welt sieht.

2 Antworten auf „Menschenrechte im Ausverkauf“

[…] Viele Inseln Schleswig-Holsteins gelten als Orte der Ruhe. Aber findet man diese dort wirklich? Und auf dem Festland – wie sieht es eigentlich in den Dörfern aus, in denen es vielleicht ungewollt immer ruhiger wird? Wenn es besonders leise um ein Thema ist, dann scheint jede*r, der oder die diese Stille durchbricht, umso lauter zu sprechen, besonders viel Gehör einzufordern. Aber wen oder was hören wir und wen hören wir nicht? Was wollen wir vielleicht gar nicht hören? Wer oder was findet kein Gehör? Und was wird dagegen unternommen, wenn durch das stetige Weghören immer wieder Menschenrechte verletzt werden?  […]

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