MDZ

Special: Der Monatliche Dreizeiler im Mai: „Wofür würdest du auf die Straße gehen?“

Titelbild & Zusammenstellung: Lisa Boll

Der Mai steht vor der Tür und mit ihm der Tag der Arbeit. Ein Tag, an dem die Straßen normalerweise voll sind mit Demonstrant*innen. Das mit den großen Demos ist zurzeit ja eher schwierig, zumindest wenn man sich an die geltenden Hygiene- und Abstandsregeln halten will und nicht jedes Mal dagegen verstößt wie die „Querdenken“-Szene. So wird Protest in Zeiten von Corona oft ins Digitale verlegt. Aber die Wirkung einer großen Masse von Menschen auf den Straßen und das Gemeinschaftsgefühl, das dabei entstehen kann, ist doch ein anderes. Die schleswig-holsteinische Landtagsabgeordnete Aminata Touré bekräftigte erst diese Woche bei einer Podiumsdiskussion, wie wichtig dieser Druck durch die Bevölkerung auch für sie als Politikerin sei, um für gewisse Themen Mehrheiten im Parlament zu finden.

Und so haben wir uns gefragt: Wofür würden wir eigentlich gerade am liebsten eine große Demo organisieren, wenn Zeit, Ressourcen und Corona keine Rolle spielen? Hier eine kleine nicht-repräsentative Stichprobe aus der Redaktion und meinem Freundinnenkreis ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

Keine Frage – es gibt sehr viele Themen, für die gekämpft werden muss und doch hängen viele dieser Themen auch zusammen.

Zwei Themen beleuchten wir in diesem MDZ genauer: Laura würde mit dem Projekt Jeder Mensch durch die Straßen ziehen und Lea träumt sich in eine Welt, in der alle für das 1,5-Grad-Ziel gemeinsam auf die Straße gehen und damit noch Erfolg haben (Vorsicht: Kitschalarm!).

Wofür würdest du alle Hebel in Bewegung setzen, um möglichst viele Leute auf die Straße zu bringen? Und dabei müssen wir gar nicht im Konjunktiv bleiben, denn zum Glück gibt es viele verschiedene Formen von Protest, mit denen auch während einer Pandemie der Druck hochgehalten wird.

I still have a crush on europe

–  Laura über die Idee, Europa neue Werte zu verpassen
Wenn Laura nicht gerade für trotzdem schreibt oder illustriert, findet man sie tief über ihre Masterarbeit gebeugt oder beim Managen der Boulderhalle „Der Klunker“ in Cottbus.

Direkt mit der Tür ins Haus: “Die Politik scheint mit sechs der größten Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr zurecht zu kommen: Umweltzerstörung, Digitalisierung, Macht der Algorithmen, systematische Lügen in der Politik, ungehemmte Globalisierung und Bedrohungen für den Rechtsstaat.” (Auszug aus der Beschreibung der Petition Für neue Grundrechte in Europa)

Die Charta der EU-Grundrechte ist überholt – weil die Werkzeuge der Staats- und Regierungschef*innen im Europäischen Rat nicht mehr zu den sich verändernden Aufgaben passen. Um die Werkzeuge mit sechs neuen Grundrechten an die Zeit anzupassen, gibt es das Projekt und die passende Petition: Jeder Mensch

Ursprung dieses Mammutprojekts war wohl Ferdinand von Schirach, wie er in einem Interview mit Heinrich Wiefing von der ZEIT erzählt. Er habe in einem Fernsehinterview gesagt: “Eigentlich bräuchten wir eine neue Grundrechtscharta für die EU.”  Daraufhin war sein Postfach voll und das Projekt in den Startlöchern: Jeder Mensch. Zusammen mit Staats- und Europarechtler*innen hat von Schirach im gleichnamigen Buch Vorschläge für sechs neue Grundrechte zur Erweiterung der Europarechtscharta erarbeitet. Spoiler: sehr sexy!

Funfact: Nur 12% der Menschen in der EU wissen, dass es die EU-Grundrechtecharta überhaupt gibt. 

Wir können was von Europa wollen und das per Mausklick! Natürlich würde ich auch dafür auf die Straße gehen – nachdem ich mit Lea und dem Tyrannosaurus Rex unterwegs war. 

Das 1,5-Grad-Ziel oder: Auch der Tyrannosaurus Rex will das Klima retten

–  Lea über den Traum einer wirksamen 1,5-Grad Klima-Demo

Kurze Warnung vorweg: Der folgende Text ist massiv kitschig geraten – die coronabedingte Isolation schlägt mir seltsam aufs Gemüt. Zudem bin ich bei meinen Eltern. Kindheitsalarm. Folge: noch mehr Realitätsverlust. Die Redaktion hat mich dazu gebracht, ihn trotzdem zu veröffentlichen. Alles für die Sache.

Um mögliche kognitiven
Dissonanzen abzumildern
und im Idealfall auch noch die meisten globalen Probleme zu lösen, wünscht
sich Lea manchmal, dass alles kleiner, regionaler und langsamer wird:
Schleswig-Holstein ist da genau der richtige Ort. 

Früher war ich gut im Träumen. Auf meiner Straße lebte ein Tyrannosaurus Rex. Mit seinen neun Metern Körpergröße konnte er genau in das Fenster meines Kinderzimmers schauen. Er war mein cooler Freund, plauderte mit mir und hat mir oft meine Unsicherheiten genommen. Womit er seine Zeit verbrachte, wenn ich busy war, weiß ich nicht.

Neben meinen zwei kleinen Freundinnen Anna und Chroni – mit denen ich mich besonders beim Autofahren gut unterhalten konnte – gab es auch noch jede Menge Heinzelmännchen (die keinesfalls alle männlich waren) und überall herumwuselten (meine Eltern mussten immer aufpassen, wo sie hintraten).

Heute träume ich weniger

Ich habe die Fähigkeit zum Träumen fast verloren – ich bin wohl zu gestresst. Doch die trotzdem-Redaktion will, dass ich mir überlege, wozu ich am 1. Mai eine Demo anmelden würde, wenn ich nicht wegen Corona seit Monaten isoliert zuhause sitzen würde. Also übe ich das Träumen wieder. Ich erträume mir eine Demo, am liebsten mit Millionen, nein Milliarden Teilnehmenden weltweit.

Für welches Ziel? Die Antwort ist einfach: Die Teilnehmenden der Demo in meinem Kopf sind für sofortigen und radikalen Klimaschutz. In Demo-Sprache übersetzt würden sie vermutlich die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels fordern.

Dieses ist nicht perfekt: Selbst wenn sich die Erdtemperatur bis 2100 „nur“ durchschnittlich um 1,5 Grad erhitzt, werden mehr Orte auf der Erde unbewohnbar – Millionen Menschen (werden) leiden.

Das 1,5-Grad-Ziel ist bereits ein Kompromiss

Aber dieses Ziel ist eine konkrete Forderung, es mobilisiert viele Menschen weltweit – und es ist auch eine Erinnerung: „Ihr wolltet doch…?!?“. Denn im Pariser Klimaabkommen haben sich 197 Staaten darauf geeinigt, dass eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter wünschenswert ist. Hach, diese Wünsche!

Bisher jedoch passiert viel zu wenig, um diesen Kompromiss zu erreichen. Im Jahr 2019 haben sich die Emissionen der G20-Staaten laut dem Climate Transparency Report lediglich um 0,1% im Vergleich zum Vorjahr reduziert.

Wenn wir so weitermachen, wie derzeit, ist nicht einmal das 2-Grad-Ziel zu erreichen. Kipppunkte würden dann unumkehrbare Kettenreaktionen auslösen und Prozesse in Gang setzen, die das Leben, das wir kennen, fundamental verändern. Im Superwahljahr 2021 scheint deswegen nichts wichtiger als das: die Kurve kriegen.

Träumen ist erlaubt

Und so entfaltet sich auch mein Traum: die ganze Welt geht auf die Straße, blockiert alles, singt, ruft, tanzt – Menschen überall strömen durch Städte und Länder und senden das deutlichste Signal, was geht: Wandel – und zwar sofort. Wir gehen erst nachhause, wenn etwas passiert.

Das würde dann einen Paradigmenwechsel einleiten: Die Politik könnte nicht länger wertvolle Zeit verstreichen lassen, denn ihre Wähler*innen sind unmissverständlich. Es würden Gesetze geschaffen, die innerhalb kürzester Zeit den Klimawandel verlangsamten.

In diesem Traum packen dann alle an und haben Bock. Sie arbeiten zusammen und sind motiviert, um an allen Ecken und Enden Lösungen zu finden. Überall finden Veränderungen statt, es wird gerödelt und gewerkelt an einem systemischen Umbau. Alle üben, wie dieses Leben gehen kann, in dem globale Handelsketten nicht mehr auf dem Leid anderer aufbauen und Industrien und Nationen ihre Materialien weise verwenden. Tiere und Pflanzen erobern sich Lebensräume zurück. Wir reduzieren uns im Verbrauch von Energie, zurückgelegter Kilometer und einverleibter Ressourcen von weit her. Stattdessen erweitern wir uns im Sozialen: engere Bindungen, mehr gemeinsame Projekte, mehr Visionen im Miteinander, mehr Nähe. Wir werden ruhiger. 

(Niemand kann mir vorwerfen nicht vor dem Kitsch gewarnt zu haben.)

Tyrannosaurus Rex on board

Wenn ich dann den Tyrannosaurus Rex wieder heraufbeschwöre und ihn frage, wie er das sieht, dann lacht er mich aus – er ist gemeiner geworden in den letzten Jahren. Aber er ist trotzdem auf meiner Seite. Er sagt, er finde die meisten Menschen dumm und mache sich Sorgen um den Planeten und all die Lebewesen (er ist schon lange Vegetarier).

Diese ganze Zerstörung sei unnötig – er fragt: „Why?“ Alle möglichen Sachen von A nach B transportieren, dauernd gehetzt durch die Gegend düsen, in engen Häusern hocken, alles zubetonieren, sich tonnenweise weirden Kram bestellen, ihn anziehen und danach verkleidet aussehen, den ganzen Tag vor flimmernden Kästen hängen und in komische Keramiklöcher kacken – alles nicht sein Ding.

Aber irgendwie sieht er das Ganze auch entspannter als ich, fast humorvoll – denn er ist ja eh schon ausgestorben. Er würde aber trotzdem gerne mit auf die Demo kommen. Er sieht mich zweifeln und ergänzt: „Ich pass auch auf, wo ich hintrete.“

Spannende Diskussionen über das 1,5-Grad-Ziel findet ihr übrigens im Ende Gelände Podcast, Folge 22, „Perspektiven auf 1,5 Grad“. Auch der 1,5-Grad-Podcast von Luisa Neubauer dreht sich um das Thema. Besonders empfehlen kann ich auch den Podcast „klimaupdate“ von den klimareportern auch da werden immer wieder alle möglichen Aspekte rund um das 1,5-Grad-Ziel beleuchtet.

Von redaktion

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