zukunftsgestalten

Zeit umzudenken: Alles ist Arbeit!

Ein weiterer Artikel aus der Reihe zukunftsgestalten und zugleich ein Beispiel für etwas, das mir immer wieder begegnet: alltägliche Handlungen, die ich lange unhinterfragt als natürlich gegeben angenommen habe und deren Zusammenhänge ich erst kürzlich in ihren gesellschaftlich-konstruierten Dimensionen so richtig begriffen habe.

Die eigentlich simple Ausgangsfrage diesmal: Was ist eigentlich Arbeit?

Die Antworten der meisten von uns ließen sich vermutlich etwa so zusammenfassen: Arbeit wird monetär entlohnt.

Diese Antwort entspringt dem allgemeinen Alltagsverständnis einer Erwerbs-, Markt- und Geldökonomie, die von einer bestimmten Handlungsrationalität geprägt ist: In so wenig Zeit wie möglich, soll so viel Profit wie möglich, gemacht werden. Die Erwerbsarbeit folgt genau dieser Rationalität und gilt, weil sie auf irgendeine Art und Weise zu Wachstum beiträgt, als produktiv.  

Die Erwerbsökonomie ist allerdings nicht die einzige Ökonomie. Sie wird in unserer Gesellschaft nur hierarchisch in den Vordergrund gestellt. Eigentlich gibt es eine ganze Liste unterschiedlicher Ökonomien, nämlich mindestens noch die Haushalts-, die Staats- und die Sozialwirtschaft. Jede dieser Ökonomien hat jeweils unterschiedliche Zielorientierungen, dazu passende Aufgaben und ganz eigene Funktionslogiken – erst zusammen genommen allerdings bilden sie das Ganze der Ökonomie. Nur ist unsere kapitalistische Gesellschaft so stark auf die Erwerbsökonomie fixiert, dass alle anderen Ökonomien und die damit einhergehenden Formen von Arbeit unhinterfragt, aber ganz systematisch, ausgeblendet werden.

Care_1Beispielsweise die reproduktive Arbeit, auch Sorge- oder Carearbeit genannt. Zu dieser Arbeit gehören Kinderbetreuung, Kranken- und Altenpflege, häusliche Tätigkeiten, die Sorge um sich Selbst und familiäre Unterstützung. Finden kann man diese Arbeitsform im Familienkontext, in öffentlichen Institutionen, am Markt und ehrenamtlich. Sie wird in Kitas ebenso verrichtet wie in Pflegeeinrichtungen, aber eben auch zuhause, wenn beispielsweise abends Essen auf dem Tisch steht.  

Carearbeit ist übrigens – Überraschung – nicht nur weiblich konnotiert, sondern wird auch heute noch zumeist von Frauen ausgeführt. Gerade hat eine Studie der Hans-Böckler Stiftung erneut bestätigt: Frauen verwenden in Deutschland 2,4 mal so viel Zeit auf diese sogenannten reproduktiven Tätigkeiten, wie Männer.

Was Carearbeit von Erwerbsarbeit unterscheidet, ist die grundlegend andere Handlungsrationalität: Während es bei Erwerbsarbeit um so viel Profit wie möglich in so kurzer Zeit wie möglich geht, ist das Handeln bei Carearbeit darauf ausgerichtet, Leben herzustellen oder zu erhalten. Es geht also , wie der Begriff care schon nahelegt, darum sich zu sorgen und zu kümmern. Es wird eVerantwortung übernommen und Profit steht nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Bei Erwerbsarbeit geht es um so viel Profit wie möglich in so kurzer Zeit wie möglich. Carearbeit ist darauf ausgerichtet, Leben herzustellen oder zu erhalten.

Diese Form der Arbeit ist zugleich grundlegendes Element unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaftsweise, weil Erwerbsarbeit nur stattfinden kann, wenn die reproduktive Arbeit schon getan wurde: Menschen, die zur Arbeit gehen, müssen satt sein und geschlafen haben. Sie hatten idealerweise Kontakt zu anderen Menschen, denn auch menschliche Kontakte gehört zu einem gelungenen Leben und in den Bereich der Carearbeit – das ist alles sehr viel Aufwand. Paradoxerweise wird reproduktive Arbeit oft nicht als Arbeit anerkannt, nicht oder gering entlohnt und deshalb über- und ausgenutzt. Sie wird nicht in die Rechnungen der Wirtschaft einbezogen und somit externalisiert.

Hierarchie

Die jetzige Wirtschaftsform spaltet, neben der Carearbeit, auch die Natur ab: Die in der natürlichen Umwelt produzierten ‘Naturprodukte’ werden als immer gegeben verstanden. Natur gilt vielen Menschen noch immer als gleichbleibender, unveränderlicher und unendlich sich selbst reproduzierender Bestand. Auch wenn langsam das Bewusstsein dafür wächst, dass dem nicht so ist, ändert sich der Umgang mit der Natur nur langsam und ist bei weitem noch nicht nachhaltig. Dies führt dazu, dass zu viele Ressourcen entnommen und Senken zu stark belastet werden. Die Natur hat im Grunde schlicht nicht genügend Zeit, sich zu reproduzieren und wird stattdessen zu schnell weiter ausgebeutet. Die vielen Folgen davon kumulieren sich im großen Endboss Klimawandel.

Zusammengefasst ist es also folgendermaßen: Die sozial männliche konnotierte Erwerbsarbeit wird als produktiv angesehen und in Wert gesetzt. Ihr werden die sozial weibliche konnotierte reproduktive Carearbeit und die reproduktive Arbeit der Natur gegenübergestellt. Diese werden, ganz unserem jetzigen Wirtschaftsverständnis entsprechend, externalisiert. So entsteht eine hierarchisch-asymmetrischen Trennung, die mit der Herabstufung der beiden letzteren ‚Arbeitsformen‘ und einer Nicht- oder Geringbewertung einhergeht.   

Die Wissenschaftlerinnen Adelheid Biesecker und Sabine Hofmeister bringen es in einem Artikel von 2013 etwas akademischer und folgendermaßen auf den Punkt: “Diese Trennungsverhältnisse haben systemisch in eine Krise hineingeführt, die zum einen als ökologische und zum anderen als soziale wahrgenommen, aber in ihrem Zusammenhang bisher selten verstanden wird. Es handelt sich um eine einzige Krise – um die Krise des ‘Reproduktiven’.” 

Bei den sozial-ökologischen Krisen haben wir es mit reproduktiven Krisen zu tun.

Zugespitzt bedeutet das nichts weniger als: Die Trennung von Produktions- und Reproduktionsarbeit hat uns überhaupt erst in die sozial-ökologischen Krisen geführt! Und umgekehrt: Bei den sozial-ökologischen Krisen haben wir es mit reproduktiven Krisen zu tun.

Erstens mit der reproduktiv-ökologischen Krise, die in der maßlosen Übernutzung der Natur begründet liegt. Diese kann sich nicht mehr reproduzieren oder erholen. Die Zeiträume dafür sind von den Menschen zu stark verkürzt worden.

Zweitens: Die reproduktive Krise des Sozialen liegt darin begründet, dass wir die Prinzipien und die Logik der Sorge nicht in unsere Handlungsweisen integrieren. Stattdessen überwiegen Prinzipien der Erwerbsökonomie und -arbeit. Wir gehen unsorgsam mit uns selbst und miteinander um, was zu einer Ausbeutung von uns selbst führt. Zugleich nimmt die Erwerbsarbeit so viel Zeit in Anspruch, dass kaum noch Muße bleibt für Sorge und die grundmenschliche Bedürfnisse wie Nähe, Gemeinschaft oder Ruhe. Folgen davon sind Depressionen, Überlastungen und natürlich das berühmte Burn-Out.

Im Gesundheitssystem wird versucht reproduktive Arbeit unter den Voraussetzungen von Effizienz zu erledigen.

Beispielhaft und eindrücklich sieht man diese vollkommene Schieflage im Gesundheitssystem. Hier wird versucht, reproduktive Arbeit unter den Voraussetzungen der Effizienz von Erwerbsarbeit zu erledigen. Ständiger Zeit- und Kostendruck auf Carearbeiter*innen, infolge von grundlegend unterschiedlichen Handlungsausrichtungen und Zeitverständnissen der beiden Sphären, ist da vorprogrammiert.

Blickwechsel

Statt aus Richtung der angeblich produktiven Arbeit auf die reproduktive Arbeit zu blicken, könnte diese Trennung der beiden Sphären, durch einen Wechsel der Blick- und Denkrichtung, einfach mal aufgehoben werden – wenigstens theoretisch. Adelheid Biesecker und Sabine Hofmeister haben dafür die Kategorie (Re)Produktivität entwickelt, in der es keine hierarchische Differenz zwischen dem Produktiven und dem Reproduktiven mehr gibt. Beide Handlungsweisen sind stattdessen untrennbar miteinander verwoben und in jedem einzelnen Prozess der Herstellung und Konsumption von Gütern oder Leistungen, sind gleichzeitig Wiederherstellungs- und Erneuerungsprozesse enthalten.

(Re)Produktivität ist dabei nicht nur eine soziale Kategorie, sondern auch eine, in der die ökologische Nachhaltigkeit mitgedacht wird. Die Natur reproduziert sich selbst, wodurch sozusagen ‘Naturprodukte’ entstehen. Durch menschliche (re)produktive Arbeit wird daraus ein für den Menschen nutzbares Produkt. Dieses wird konsumiert, also zur Erhaltung von Leben genutzt. Das Endprodukt sollte im Idealfall so beschaffen sein, dass es wieder die Grundlage weiterer natürlicher Reproduktion darstellt. (So weit ist unsere Gesellschaft in den meisten Fällen leider noch nicht, aber das ist eine Frage für einen anderen Artikel.) Grundsätzlich gilt: Alles ist miteinander verwoben und ohne einander nicht denkbar. Die verschiedenen Formen von Arbeit gehören zusammen.

Reproduktivität

Also, was ist eigentlich Arbeit?
Es reicht nicht, die Frage nur oberflächlich abzutun, sondern sie muss gedreht werden und erweitert. Umformuliert käme folgende Frage zum Vorschein: Was sehen wir als Arbeit an und was blenden wir einfach aus?

Erst wenn wir die reproduktive Arbeit als gleichwertig in unser Verständnis von Arbeit einbeziehen und idealerweise sogar anfangen die Grenzen zwischen produktiv und reproduktiv aufzuweichen, können wir zu einer Neubewertung von menschlichen Tätigkeiten und Zusammenleben kommen.

Wenn wir Carearbeit in unser Verständnis von Arbeit einbeziehen, können wir zu einer völligen Neubewertung von menschlichem Zusammenleben kommen.

Diese Neu- oder auch Umbewertung ist grundlegend, wenn wir eine Gesellschaft anstreben, in der soziale und ökologische Nachhaltigkeit ernsthafte Leitbilder sind. Denn zu jeder strukturellen gesellschaftlichen Transformationen gehört zunächst eine Veränderung der inneren Haltung: Damit nicht mehr Konsum, Profit und Eigennutzen treibend für unsere Gesellschaft sind, sondern Sorge, Solidarität und Genuss.

 



Das Konzept
(Re)Produktivität ist nicht ganz leicht zu verstehen, aber sehr spannend. Zum Weiterlesen empfehle ich folgendes:

Biesecker, A., & Hofmeister, S. (2006). Die Neuerfindung des Ökonomischen. Ein (re)produktvionstheoretischer Beitrag zur Sozial-ökologischen Forschung. München: oekom Verlag.

Biesecker, A., & Hofmeister, S. (2013). (Re)Produktivität als Kategorie Vorsorgenden Wirtschaftens. In Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften (Hrsg.), Wege Vorsorgendes Wirtschaften (S. 137–158). Marburg: Metropolis-Verlag.

Die Zeichnungen sind – ganz dem Artikels entsprechend – nicht ‚produktiv‘ von Laura gemacht worden, sondern als selfcare-Übung von Emma: Daher auch der Kindergartencharme.

 

 

Von emma

Emma hat mal Medienwissenschaft und Germanistik studiert – sie ist also nicht nur prädestiniert dafür, auf alle Artikel nochmal einen letzten (Kontroll-)Blick zu werfen, sondern macht das auch noch gerne. Partizipation und öffentlicher Raum sind gerade ihre Lieblingsthemen. Um sich damit weiter zu beschäftigen, hat es sie dieses Jahr nach Berlin verschlagen.

3 Antworten auf „Zeit umzudenken: Alles ist Arbeit!“

Liebe Emma,

ein schöner Beitrag zum Nachdenken. Du weißt richtigerweise daraufhin, dass auch Erziehungs- oder Pflegearbeit Arbeit bedeutet, auch wenn keine Waren hergestellt werden. Besonders bedenklich wird es allerdings bei der Finanzwirtschaft. Dort wird Geld erzeugt, ohne, dass überhaupt die menschliche Arbeitskraft benötigt wird. Doch diese werden oftmals deutlich besser bezahlt als andere Dienstleistungen. Es ist an der Zeit die Systemfrage zu stellen, wie lange wir uns noch diese Ungerechtigkeit gefallen lassen wollen. Oftmals werden wir unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht, sind permanent gestresst und werden als Folge krank, wobei unsere Krankheit dann wieder individualisiert wird. Es ist unsere Schuld, dass wir dann nicht mehr arbeiten können und bekommen dann Hartz IV, sofern wir nicht zu reich sind und bekommen dann später weniger Rente.
https://haimart.wordpress.com/2019/04/19/fuer-irrlichter-sich-ausbrennen-lassen/

[…] Unter Care-Arbeit wird jene Arbeit verstanden, die Leben herstellt oder erhält: Also „Kinderbetreuung, Kranken- und Altenpflege, häusliche Tätigkeiten, die Sorge um sich Selbst und fam…”. Der Zeitaufwand der Care-Arbeit hindert Frauen daran, im selben Maße der Erwerbsarbeit […]

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