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Wer Herrschaft sät, kann nicht Demokratie ernten – Was unser Ernährungssystem mit (sozialer) Ungleichheit zu tun hat

Foodblogs, Foodmagazine, Vegan Food, Low Carb, High Carb, Paleo, Meatlovers, Veggielovers, Foodies hier, Foodies dort, Food, Food, Food, its all about food. Über kaum etwas reden wir so gerne, wie über Essen. Es verbindet – nicht nur unsere Herzen. Das dahinter stehende System schafft Abhängigkeiten, der Kleinen von den Großen, der Armen von den Reichen und des Globalen Südens vom Globalen Norden.

Es eröffnen sich zwei Perspektiven auf unsere Ernährung. Einerseits wird das individuelle Essverhalten – von sinnlose Diäten bis hin zu den neuesten Foodtrends – durch die Medien gejagt, während andererseits der Gesamtzusammenhang unserer Ernährungsweise aus dem Blick gerät. Es ist Zeit, näher hinzuschauen: Wie (re)produziert unser Ernährungssystem Machtverhältnisse und dadurch (soziale) Ungleichheit? Welchen Bezug zu sozialen Strukturen und welche ökologischen Auswirkungen hat die Art und Weise, wie wir unsere Lebensmittel anbauen und verteilen? Das I.L.A. Kollektiv hat das Problem im Buch Auf Kosten anderer auf den Punkt gebracht:

“Unsere Gesellschaft hinterfragt die zugrunde liegende kapitalistische Logik nicht, genauso wenig die Machtverhältnisse, die diese Ernährungsweise absichern.”

Die Gruppe ist ein Kollektiv von 35 jungen Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, das es sich zum Ziel gesetzt hat, wissenschaftliche Praxis mit politischen Aktivitäten zu verknüpfen. I.L.A. steht dabei für Imperiale Lebensweise und solidarische Alternativen.

Das Problem mit der Ernährungssicherheit

Essen muss jede und jeder von uns. Der Hunger der Weltbevölkerung muss gestillt werden, doch momentan werden Mensch und Natur dafür ausgebeutet. Monokulturen, Regenwaldrodungen, Flächenversiegelung, Übersäuerung der Meere, Bodenübernutzung, Kinderarbeit, gefährliche Arbeitsbedingungen, und dergleichen mehr – die Liste der Probleme, die die Menschheit in Zusammenhang mit Ernährung erschaffen hat, ist mindestens so lang wie dieser Artikel.

Obwohl wir hier im Globalen Norden im Überfluss leben, müssen 800 Millionen Menschen hungern – auch hier in Deutschland und Europa übrigens. Dass wir eigentlich genügend Nahrungsmittel für 12 Milliarden Menschen haben, verstärkt die Absurdität und Sinnlosigkeit dieses Hungerns. Das Problem ist nicht, dass es zu wenig gibt, sondern, dass nicht alle Menschen den gleichen Zugang zu Nahrungsmitteln haben. Kein Mensch müsste sich Sorgen um die Sicherung seiner oder ihrer Ernährung machen, wären die vorhandenen Ressourcen gerecht verteilt. Unsere imperiale Lebensweise ist also auch eine imperiale Ernährungsweise und so kommen wir am Ende zu der immer wiederkehrenden Frage der (Um-)Verteilung.

Aus dem Versuch, durch industrielle Nahrungsmittelproduktion, den Hunger zu stillen, ist ein Dilemma der Machtverhältnisse geworden. Auf dem Acker treffen sich Großkonzerne mit Banken und Regierungen. Sie sind diejenigen, die über unsere Ernährung entscheiden und nicht wir oder gar diejenigen, die die Lebensmittel für uns anbauen.

Das Problem mit der Macht

Die Industrialisierung hat den bäuerlichen Betrieb zu einem Unternehmen gemacht und unser Ernährungssystem neoliberalisiert. Die Produktion von Lebensmitteln wurde, wie der Begriff Produktion schon vermuten lässt, zu einer Wertschöpfungskette. Diese Wertschöpfungskette enthält bestimmte Knotenpunkte, wo sich Macht bündelt.

Vor allem an drei Knotenpunkten der Agrarlieferkette konzentriert sich enorme Macht. Bei den Hersteller*innen von Pestiziden, bei den Händler*innen von Getreide, Saatgut und Pflanzen und bei den Einzelhändler*innen. Die Macht nimmt immer mehr zu und konzentriert sich in den einzelnen Knotenpunkten.

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Die Machtkonzentration findet unter anderem deswegen statt, weil diese drei Bereiche des Prozesses inzwischen zu nur zweien verschmolzen sind. Vor allem passierte dies durch große Fusionen zwischen Saatgut- und Pestizidunternehmen, wie Bayer und Monsanto.

Aber auch die Einzelhandelsgeschäfte werden immer mehr von großen Firmen übernommen. Das kann momentan in Indien gut beobachtet werden, wo noch kleine Läden die Straßen säumen. Diese werden in den letzten Jahren entweder von großen Ketten aufgekauft oder müssen dem Wettbewerbsdruck weichen.

In Deutschland ist das schon passiert und Tante Emma wurde durch Lidl und Co. ersetzt. Lidl ist übrigens auf Platz 1 der mächtigsten Discounterketten europaweit, dicht gefolgt von Aldi.

Agrarwirtschaft 4.0

Mit der voranschreitenden Technisierung und Digitalisierung kommen, neben den schon vorhandenen großen Unternehmen, neue Player auf den Markt. Dadurch entstehen neue, stark umkämpfte Macht-Knotenpunkte und die Komplexität des Ernährungssystems erhöht sich. Diese Big Player agieren global, zentralisieren die Wertschöpfung und dadurch auch die Macht.

Die hohe Abhängigkeit der Politik von der Wirtschaft wiederum führt dazu, dass die weltweit agierenden Digitalunternehmen Einfluss auf politische Meinungsbildung und Gesetzgebung haben, und dadurch auch auf Ernährungssouveränität. Natürlich wird Ernährungssouveränität nicht erst seit der Digitalisierung beeinflusst. Sie befindet sich in einem kontinuierlichen Aushandlungsprozess, innerhalb sich immer wieder verändernder Machtstrukturen.

Der momentane Zustand, welcher insbesondere auf  Digitalisierung und Technisierung zurückzuführen ist, ist eine stetig steigende Kontrolle des globalen Ernährungssystems durch immer weniger Unternehmen. So werfen Gentech-Konzerne ein Auge auf die bereits große Marktmacht der wenigen Saatgutunternehmen. Mit der Digitalisierung der Landmaschinen und dem Smart Farming ist die vollständige Abhängigkeit der Kleinbauern besiegelt. Vorerst.

Im Retailbereich sieht es ähnlich aus. Amazon und die chinesische Alibaba Group positionieren sich geschickt erst in den Regalen der Supermärkte, bevor sie diese ganz übernehmen.

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Es entsteht eine Art globales Durchflusssystem, in dem Kleine von Großen abhängig sind. Saatgut, Dünger und Futtermittel müssen zugekauft werden. Das verbildlichte Durchflusssystem zeigt, wie sich Macht und Geld in der globalen Wertschöpfungskette an den bereits erwähnten Knotenpunkten konzentrieren. Die kleine, abhängige Landwirtschaft erhält wenig bis nichts davon – Geld und Macht fließen einfach durch, von einem Global Big Player zum nächsten. Denn mit der Macht, ist es wie mit dem Matthäus-Effekt: Wer Macht hat, bekommt mehr Macht. Den Großen wird gegeben, den Kleinen wird genommen.

Letztendlich aber verbirgt sich hinter den bestehenden Machtverhältnisse nichts anderes, als ein Verstoß gegen das Menschenrecht ‘Recht auf adäquate Ernährung’.

Die global ausgerichtete Produktion kontrolliert die lokalen Bäuerinnen. Sie zerstört alternative Landwirtschaft vor Ort und somit die Lebensgrundlage vieler Menschen. Ein Großteil der Menschen, die weltweit hungern, sind Kleinbauern und -bäuerinnen. Das ist an Absurdität kaum zu übertreffen.

Besser wäre ein geschlossenes Kreislaufsystem. Hier befruchten sich lokale Kreisläufe, die dennoch global vernetzt sind und so voneinander profitieren. Mit dem großen Unterschied der Souveränität: Die Resilienz der im Kreislauf agierenden Menschen und Subsysteme erhöht sich. Falls Bayer beispielsweise seine Preise erhöht oder nur noch eine Saat verkauft, tangiert dies das geschlossene Kreislaufsystem nicht. Es kann weiterhin für ausreichende Ernährung sorgen.

Aus Macht wird Herrschaft

Per se ist an Macht nichts auszusetzen – oder? Auch in der Ernährungssouveränitäts-Bewegung wird Macht angestrebt: Ermächtigung, Eigenmacht, Unabhängigkeit, das alles sind Formen von Macht.

Doch im jetzigen Ernährungssystem werden imperiale Lebensweisen durch die bestehenden Machtverhältnisse reproduziert und Mensch und Umwelt immer weiter ausgebeutet. Spekulationen großer Banken führen zu Landgrabbing. Landgrabbing ist ein schönerer Begriff für die Aneignung von Landflächen, die zuvor Allgemeingut waren und der Ernährung der Bevölkerung zur Verfügung standen. Sowohl Regierungen als auch Unternehmen eignen sich diese Flächen unrechtmäßig oder auf düsteren Gesetzesumwegen an. Auch (Ressourcen-) Kriege und Konflikte stehen auf der Liste der Verbrechen des Ernährungssystems.

Warum das alles? Weil unsere Landwirtschaft auf fossilen Energieträgern basiert.

Das ist ein Problem. Die Ernährungssouveränität der einzelnen Länder, und damit die Resilienz der Bevölkerung, wird durch diese ungleichen Machtverhältnisse gefährdet. Immer stärkere Machtzentralisierung fördert und stabilisiert extreme Ungleichheiten.

Ernährungsdemokratie als Lösung

Das Ziel ist klar: Gutes Essen für Alle! Dafür benötigen wir eine sozial-ökologische Transformation der Agrarwirtschaft und vor allem Ernährungssouveränität! Dies bedeutet die Demokratisierung des Ernährungssystems – also Mitsprache – und vor allem Mitwirkungsrecht für Alle. Große Schritte in diese Richtung geht beispielsweise die Urban Gardening Bewegung. Sie ist mehr, als nur gemeinsames Gärtnern: Hier werden Ernährung(zugänge) kritisch hinterfragt, die Relevanz des Themenkomplexes aufgedeckt und Bürger*innen handlungsfähig gemacht. Ernährung wird politisch.

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Darin, wie wir unsere Ernährung organisieren, spiegelt sich wider, wie wir unsere Gesellschaft gestalten. Das zeigt sich in der engen Verknüpfung der imperialen Lebensweise mit der imperialen Ernährungsweise. Im Umkehrschluss kann Ernährung auch zeigen, wie wir unsere Zusammenleben solidarischer gestalten können: Ansätze wie Solidarische Landwirtschaft, Bewegungen wie La Via Campesina und Kollektive wie die Kaffee-Zapatistas gibt es bereits. Nehmen wir uns ein Beispiel.

Von redaktion

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